Die Pandemie hat Deutschland und die Welt weiterhin im Griff, wir befinden uns nach wie vor im Lockdown, Kontaktbeschränkungen und Social Distancing sind angesagt. Doch wie geht man mit solch herausfordernden Zeiten um? Wie kann man trotz allem auf seine seelische Gesundheit achten? Und wie geht es eigentlich Therapeuten in der Corona-Zeit? Jenni Kiemer, Psychotherapeutin aus Iphofen, erzählt im Interview, wie Corona ihre Arbeit beeinflusst, ob im Moment mehr Menschen an Depressionen leiden und welche Hilfen und Unterstützung es für Betroffene gibt.
Würzburg erleben (WE): Kurz ein paar Sätze zu Dir: Wer bist Du? Was machst Du genau?
Jenni: Mein Name ist Jenni Kiemer, ich bin approbierte Psychologische Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie. Ich arbeite in meiner Praxis für Psychotherapie in Iphofen und behandle dort Patienten mit psychischen Problemen wie Depressionen, Angststörungen, Zwängen, sexuellen Problemen, Verhaltenssüchten, somatoformen Erkrankungen, Traumatisierungen und Essstörungen. Zuvor habe ich an der Universitätsklinik in Würzburg in der Psychosomatischen Tagesklinik gearbeitet.
Videotherapie ähnlich wirksam
WE: Wie beeinflusst Corona Deine Arbeit als Psychotherapeutin?
Jenni: Corona hat wie in fast allen Bereichen auch einen Einfluss auf meine Arbeit und die meiner Kollegen. Ein Großteil der Therapien findet seit dem ersten Lockdown online per Video statt. Eine ganz aktuelle Studie aus den USA zeigt, dass Videotherapie ähnlich wirksam ist, wie eine Therapie vor Ort. Es war allerdings sowohl für meine Patienten als auch mich eine Umstellung, an die man sich gewöhnen musste. Insbesondere bei neuen Patienten, als auch bei sehr belastenden Themen ist es angenehmer, im direkten Kontakt mit den Patienten zu sein. Ich bin dennoch sehr froh, dass die Möglichkeit besteht weiterhin Therapien anzubieten und Menschen in den besonders fordernden Zeiten so unterstützen zu können. Die neue Technologie bietet auch Vorteile für meine Arbeit. Ich biete monatlich einen kostenlosen Informationsabend mit wechselnden psychologischen Themen an. Über die Videokonferenz können nun mehr Menschen als bisher teilnehmen, wenn gewünscht auch anonym.
Jenni: Kannst Du ein wenig mehr über den Infoabend berichten?
Die Veranstaltung findet mit wechselnden Themenschwerpunkten jeden ersten Donnerstag im Monat um 20.00 Uhr statt (nächster Termin am 4. Februar). Aktuell betrifft sie Angehörige von Menschen mit Depressionen. An vier aufeinanderfolgenden Terminen wird Wissen vermittelt über die Erkrankung und den Umgang mit ihr. Zudem besteht die Möglichkeit, Fragen zu stellen und sich auf Wunsch auszutauschen. Die Themenübersicht steht auf meiner Website, dort kann man sich auch über das Kontaktformular anmelden.
WE: Gibt es seit der Pandemie vermehrt Anfragen in Deiner Praxis (im Vergleich zu vor der Pandemie)?
Jenni: Da ich aus der Elternzeit komme fehlen mir hier persönlich die Vergleichswerte. Kollegen berichten davon, dass die insgesamt schon sehr hohe Nachfrage noch weiter gestiegen ist und aktuelle Studien weisen eindeutig darauf hin, dass die Zahlen psychischer Erkrankungen weltweit deutlich steigen. In den USA haben sich die Depressionsraten verdreifacht. Zudem geht es den Menschen, die schon vor der Pandemie unter psychischen Erkrankungen gelitten haben, noch schlechter. Viele Kliniken mussten ihre Kapazitäten zur Einhaltung des Infektionsschutzes deutlich herunterfahren, sodass viele Patienten geplante stationäre Behandlungen nicht antreten konnten und immer noch auf ihren Aufenthalt warten.
Jeder Patient mit induvidueller Krankengeschichte
WE: Was sind die häufigsten Probleme, mit denen Deine Patienten zu kämpfen haben?
Jenni: Jeder Patient bringt eine individuelle Lebens- und Erfahrungsgeschichte mit. Die meisten psychischen Erkrankungen sind multifaktoriell bedingt. Das bedeutet, dass viele Komponenten zusammenkommen, sowohl biologische, als auch biografische und soziale. Daneben spielt auch die Persönlichkeitsstruktur eine Rolle sowie individuelle Denk- und Verhaltensmuster. Am Beispiel einer Depression lässt es sich anschaulich erklären. Menschen bringen unterschiedliche genetische Risiken mit, an einer Depression zu erkranken (Vulnerabilität). Dies allein führt aber noch nicht zu einer Depression. Erst wenn ein hohes Maß an Stress, z. B. am Arbeitsplatz, mit dem Partner oder durch einmalige oder andauernde belastende Erlebnisse hinzukommt, kann sich eine Depression entwickeln.

Nur schlecht drauf oder schon eine Depression? Symbolfoto: Pascal Höfig
Bildlich gesprochen läuft das Glas über und Körper und Seele reagieren mit psychischen Symptomen. Häufige Probleme, die zur Entwicklung einer psychischen Störung wie einer Angststörung oder Depression führen sind hohe eigene Erwartungen und Perfektionismus, ein geringer Selbstwert, zwischenmenschliche Probleme mit Partner oder Familie sowie hohe Belastungen und Anforderungen am Arbeitsplatz. Seit Covid-19 sind zusätzliche Stressoren dazugekommen, zum Beispiel durch die Doppelbelastung von Eltern durch Home-Schooling, finanzielle Sorgen und Ängste vor Erkrankungen. Das Risiko einer psychischen Erkrankung steigt, wenn über eine längere Zeit zu viel Belastung besteht.
Depressive Menschen sind daher übrigens niemals nur “zu bequem“ oder “stellen sich an“. Vielmehr sind es Menschen, die permanent über ihre Grenzen gehen, häufig für andere da sind und sich dabei selbst vergessen. Leider ist in der Gesellschaft häufig noch ein sehr falsches Bild verbreitet, welches Menschen mit Depressionen oder psychischen Erkrankungen stigmatisiert.
WE: Wie ist die Altersstruktur? Sind eher jüngere oder eher ältere Personen z.B. von Depression betroffen (auch im Hinblick auf Corona)?
Jenni: Studien zeigen, dass Frauen im Alter von 20-40 Jahren besonders unter psychischen Beschwerden aufgrund von Corona leiden. Das ist auch die Gruppe, die am häufigsten an einer Depression erkrankt. Zudem liegt ein erhöhtes Risiko bei Männern ab 60 Jahren. Depressionen sind die häufigste psychische Erkrankung, 20-25 % aller Bundesbürger erkranken einmal in ihrem Leben oder öfters an einer depressiven Erkrankung, bei Angststörungen sind die Prävalenzen ähnlich hoch.
Aktivierung und Strukturierung besonders wichtig
WE: Wie kann man sich bei einem Stimmungstief in einer schwierigen Zeit selbst helfen – besonders jetzt in Zeiten von Kontaktbeschränkungen und Social Distancing?
Jenni: Bei depressiven Verstimmungen helfen vor allem Aktivierung und Strukturierung. Das heißt, man sollte unbedingt darauf achten, eine Tagesstruktur beizubehalten und nicht länger als sonst im Bett bleiben, auch wenn das aktuell besonders schwerfällt. Der Tag sollte gut strukturiert sein, mit gesunden Mahlzeiten und regelmäßiger Bewegung. Hier gibt es zum Beispiel FitnessApps oder Videos zur Unterstützung. Vielleicht gibt es auch Projekte in der Wohnung oder im Haus, die man schon längere Zeit erledigen wollte. Es tut gut, Ziele zu haben. Sehr wichtig sind natürlich auch die sozialen Kontakte, hier hilft es, regelmäßig Freunde via Videokonferenz oder per Telefon zu treffen, sich auszutauschen und offen über sein Empfinden zu sprechen. Empfohlen werden auch Spaziergänge, Radfahren oder Joggen, es ist wichtig ausreichend an der frischen Luft zu sein.
Es kann auch helfen, eine Liste zu erstellen mit Dingen, die man gern tun möchte, die auch aktuell möglich sind – die Lieblingsmusik hören, ein entspanntes Bad nehmen, einen Kuchen backen. Die einzelnen Maßnahmen klingen im ersten Moment vielleicht nicht hilfreich, aber es geht darum, so viel Positives wie möglich zu erleben.
WE: Ab wann sollte man sich professionelle Hilfe und Unterstützung holen?
Jenni: Wenn die Lebensqualität aufgrund von negativen Gedanken und Gefühlen beeinträchtigt ist, die Symptome andauern und man sich dem Druck des Alltages nicht mehr gewachsen fühlt und das Gefühl hat, die Probleme nicht allein in den Griff zu bekommen. Häufige Symptome, die auf eine psychische Erkrankung hinweisen, sind Antriebslosigkeit und Freudverlust, eine andauernde gedrückte oder gereizte Stimmung, Schlafprobleme, Konzentrationsprobleme, negative Gedanken und Grübeln, verstärkte Ängste, sozialer Rückzug und innere Angespanntheit.
Hilfe bieten hier die Telefonseelsorge, Beratungsstellen, der Hausarzt, Psychiater, Psychotherapeuten oder im Notfall die Notaufnahmen der Krankenhäuser.
Stärken bewusst machen, dankbar sein
WE: Welche Tipps gibst Du für herausfordernde Zeiten mit auf den Weg?
Jenni: Es kann sehr guttun, sich bewusst zu machen, was man in seinem Leben schon erreicht hat und durch welche schweren Zeiten man gegebenenfalls bereits gegangen ist und wie man daraus gestärkt erwachsen ist. Wir sprechen in dem Zusammenhang auch von Resilienz, der psychischen Widerstandskraft und Selbstwirksamkeit. Sich seine eigenen Stärken bewusst zu machen und den Blick darauf zu richten, kann helfen, herausfordernde Zeiten besser zu meistern.
Und auf das, wofür man dankbar ist, was sein Leben bereichert. Dinge oder Personen, die Hoffnung geben. Hier kann es zum Beispiel helfen, ein Positiv Tagebuch zu führen, um sich bewusst zu machen, was es neben all dem Belastenden auch an Gutem gibt. Aber auch sich einzugestehen, wenn man Hilfe braucht und diese einzufordern, achtsam zu sein und Dinge, die nicht änderbar sind zu akzeptieren und anzunehmen, was allerdings ein längerer Prozess sein kann.
WE: Wie gehst Du selbst mit der jetzigen Zeit um und wie schaffst Du es, Dich von den Problemen Deiner Patienten nicht herunterziehen zu lassen?
Jenni: Ich habe nicht das Gefühl, dass die Probleme meiner Patienten mich runterziehen, wäre das so, könnte ich meinen Job nicht gut machen. Und ich mache meine Arbeit sehr gern und bin zufrieden, wenn es den Patienten dadurch besser geht. Psychotherapie ist auch nicht immer nur schwer, es wird auch gern gelacht und es ist auch für mich als Therapeutin sehr bereichernd, einen Menschen begleiten zu dürfen bei seiner persönlichen Entwicklung.
Ich selbst versuche die genannten Tipps umzusetzen, das klappt aber natürlich auch nicht an jedem Tag. Aber es hilft mir in vielen Bereichen meine Gedanken umzulenken, zu schauen, was vielleicht auch Positives an der Situation ist. Mir bewusst zu machen, das Zeit endlich ist und es wichtig ist, im Moment zu sein und viele schöne, kleine Momente zu kreieren.
Unsere Rubrik „Wir fragen…“
In unserer Rubrik „Wir fragen…“ stellen wir Persönlichkeiten aus Würzburg und der Umgebung aus den verschiedensten Lebensbereichen vor und fragen sie nach ihren Erfahrungen. Wen wolltest Du schon immer mal etwas Bestimmtes fragen? Schreib uns per Mail an redaktion@wuerzburgerleben.de oder kommentiert unter unserem Facebook-Posting!