Fenster in eine vergangene Zeit
Kinder- und Jugendbücher aus den Jahren 1925 bis 1945 sind in einer neuen Ausstellung in der Uni-Bibliothek zu sehen. Die Exponate aus der Sammlung Wehner werden dort zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. Sie liefern spannende Einblicke in frühe Leseerlebnisse einer ganzen Generation.
Die Erinnerungen an die Helden der Kinder- und Jugendbücher bleiben lebendig – ein Leben lang. Wer erinnert sich nicht an Märchenfiguren oder an fantastische Abenteuer, mit denen man als junger Leser mitgelebt, mitgefiebert, mitgelitten oder mitgelacht hat? Auch wenn jede Generation ihre eigenen Textwelten an Kinder- und Jugendliteratur (KJL) zur Verfügung hat, so teilen Leser aller Generationen die Erinnerungen an diese frühen Leseerlebnisse, selbst wenn die Figuren im Laufe der Zeit wechseln.
Ein Blick zurück in die Geschichte der KJL zeigt, dass die Literatur für junge Leser auch auf andere Weise wirken kann – und wirken will: Denn immer wieder ist KJL auch als Instrument für eine ideologische Erziehung und Prägung junger Menschen eingesetzt worden, immer wieder haben Autoren versucht, über ihre Texte das Denken und die Weltsicht einer nachfolgenden Generation zu beeinflussen – teils zwischen den Zeilen, teils allzu offensichtlich.
Die Sammlung von Sigrid Wehner
Rekonstruktionen dieser beiden sehr unterschiedlichen Aspekte von KJL erlaubt eine wohl einzigartige private Sammlung von Kinder- und Jugendliteratur aus den Jahren 1925 bis 1945, die in Würzburg beheimatet ist und die jetzt erstmals – anhand weniger ausgewählter Exponate – in einer Ausstellung im Foyer der Universitätsbibliothek am Hubland der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Knapp 30 der inzwischen über 14.000 Kinder- und Jugendbücher aus der privaten Sammlung von Sigrid Wehner sind dort zu sehen.
Der Antrieb für Sigrid Wehner, historische KJL zu sammeln, erklärt sich durch ihre Biografie: 1931 im hinterpommerschen Naugard geboren, muss sie als 13-Jährige sämtliche Bücher ihrer Kindheit bei der Flucht mit dem letzten Flüchtlingszug aus ihrer Heimatstadt 1945 zurücklassen. Wie einschneidend neben der Flucht auch der Verlust der geliebten Kinder- und Jugendbücher tatsächlich ist, wird ihr erst knapp fünf Jahrzehnte später deutlich. Beim Stöbern in einem Antiquariatskatalog stolpert Sigrid Wehner eher zufällig über den Titel „König ist unser Kind“ von Gertrud Caspari. Der Titel reicht aus, um Erinnerungen an die Kinderzeit und die Bilder und Verse dieses Buchs zu wecken, das zu ihren Lieblings-Bilderbüchern gezählt hat.
Aus dem persönlichen Interesse wird forschende Neugier
Der Fund ist die Initialzündung für das, was dann folgt. Zunächst ist da der Wunsch, die Bücher der eigenen Kindheit wiederzubekommen; weit über hundert Titel sind es, an die sich Sigrid Wehner erinnert und die sie nun sucht. Sie recherchiert, besucht Flohmärkte und entdeckt, dass das Angebot an historischer KJL kaum zu überblicken ist. Dann stellt sie sich die eine Frage, deren Beantwortung schließlich den immensen Umfang der Sammlung begründet: „Wenn mich meine Bücher so geprägt haben, dann muss festgehalten werden, durch welche Bücher meine Generation insgesamt geprägt worden ist“, sagt Sigrid Wehner. Aus dem persönlichen Interesse an der Spurensuche der eigenen Lesekindheit erwächst schnell eine forschende Neugier, denn die KJL der Jahre zwischen 1925 und 1945 bietet in Sachen frühkindlicher Erziehung, Prägung und auch Indoktrination eine immense Spannbreite – quer durch alle politischen Lager und gesellschaftlichen Gruppen.
Seit 1992 ist Sigrid Wehner damit befasst, die Bücher zu sammeln, die dies spiegeln können. Was mit Besuchen auf Flohmärkten in der Region begann, wurde bald um gezielte Reisen zu Büchermärkten und Fachantiquariaten in ganz Deutschland und Recherchen in einschlägigen Sammlerkatalogen ausgedehnt. Und Sigrid Wehner sammelt nun alles, was an Kinder- und Jugendliteratur im engen und weiteren Sinne verfügbar ist. Die Sammlung umfasst Mädchen- und Jungenliteratur, Märchensammlungen und Abenteuerbücher, Zeitschriften für Kinder und Jugendliche sowie Bilderbücher in allen möglichen Formaten und Größen; sie reicht von sozialistischer über jüdische bis zu kriegsbegeisternder, (prä-)faschistischer KJL. Damit dokumentiert die Sammlung weit mehr als ein Stück Literaturgeschichte aus einer bewegten Zeit.
Jeder Titel ist eine Erinnerung an die Kindheit
Längst hat Sigrid Wehner ihre verlorenen Bücher weitgehend wiedergefunden. Jeder einzelne Titel ist eine Erinnerung an die Kindheit, an einen Leseaugenblick. „Ich war immer ein Lesekind“, sagt Sigrid Wehner von sich selbst. Und so zeigt ihre Lesebiografie prototypische Parallelen zu Lesebiografien des frühen 21. Jahrhunderts: Sie hat schon früh eigene Bücher besessen, ihre Eltern und vor allem ihre Patentante haben ihre Lesebegeisterung unterstützt und ihr Bücher geschenkt, als Kind bereits war ihr die Bücherei ihrer Heimatstadt bestens vertraut.
Die Titel ihrer Lieblingsbücher sind heute weitgehend unbekannt und auf dem aktuellen Buchmarkt nicht vorhanden. Beispielsweise sind die Mädchenbücher der „Pommerle“-Reihe der seit den 1920er-Jahren bekannten Autorin Magda Trott oder die Märchentextsammlung „Das königliche Herz – Märchen von den vier Winden und den zwölf Monaten“ heute kaum mehr bekannt und kaum außerhalb von Archiven und Antiquariaten erhältlich. Dabei sind diese Bücher wertvolle Zeitzeugen, die spannende Einblicke liefern, wie eine ganze Generation durch frühe Leseerlebnisse beeinflusst worden ist.
Wichtig auch für die Forschung
Wichtig ist die Sammlung Wehner daher auch für die Forschung: Der Querschnitt durch die Kinder- und Jugendliteraturproduktion der Jahre 1925 bis 1945 kann nicht nur dokumentieren, welche Prägungen die Generation der nach dem 1. Weltkrieg geborenen Kinder erfahren hat. Sie ist auch literaturwissenschaftlich ein Materialschatz, eben weil diese Bücher kaum in systematischer Form verfügbar sind. Auch für Historiker, Soziologen, Pädagogen oder Psychologen kann die Spurensuche in alten Texten ergiebig und spannend sein. So versteht auch Sigrid Wehner ihre Sammlung: „Sie ist ein Anfang und ein Auftrag für die Forschung in verschiedenen Disziplinen.“
Die Texte der Kinder- und Jugendliteratur sind eben auch zeitgeschichtliche Dokumente, die nicht nur Lektürepräferenzen einzelner Generationen spiegeln; sie lassen erkennen, welche Versuche mit Bildern und Texten unternommen worden sind, um bereits in Kinderzimmern Einfluss auf das Denken und die Weltbilder junger Menschen zu gewinnen. Darüber hinaus ist die historische KJL ein ergiebiger Gegenstand nicht nur für literaturwissenschaftliche Forschung.
Die Ausstellung „Kinder- und Jugendliteratur der Sammlung Wehner“ wird am Dienstag, 6. Mai, um 18 Uhr im Foyer der Universitäts-Bibliothek, Am Hubland, eröffnet. Sie ist bis zum 6. Juli 2014 dort zu sehen. Öffnungszeiten: Mo – Fr 8.30 – 24.00 Uhr; Sa, So 9.00 – 22 Uhr. Der Eintritt ist frei.