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Würzburg - Foto: Pascal Höfig
Symbolbild Würzburg

„ADHS-Hochburg“ Würzburg?

Rund 12 % der Jungen und 4 % der Mädchen in Deutschland leiden laut neuen Statistiken an ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung). Bundesweiter „Spitzenreiter“ soll Würzburg sein, wo dieses Krankheitsbild bei knapp 19 % der Jungen und 8,8 % der Mädchen diagnostiziert wurde. Zwar dürfte jeder, nicht zuletzt durch die ausgiebige Mediatisierung des „Zappelphilipp-Syndroms“, etwas mit dem Begriff ADHS anfangen können, aber was ist die „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ eigentlich genau?

Ein Gespräch mit Dr. Uwe Hemminger, niedergelassener Psychotherapeut für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Würzburg.

Die Diagnose ADHS wird, gerade in Würzburg, bei immer mehr Kindern und Jugendlichen gestellt. Woran wird diese Störung festgemacht?

Die Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, manchmal auch „hyperkinetisches Syndrom“ genannt, ist eine klinische Diagnose, das heißt es gibt kein Testverfahren, mit dem man, wie bei einem Blutwert, feststellen kann, ob die Erkrankung tatsächlich vorliegt. Stattdessen ist eine umfassende, multiaxiale (nicht eindimensionale) Diagnostik notwendig, um beurteilen zu können, ob das besondere Verhalten eines Kindes krankhaft ist und, wenn dies der Fall ist, ob es in der jeweiligen Ausprägung dann auch tatsächlich behandlungsbedürftig ist. Die Kernsymptome sind eine über das normale Maß hinausgehende motorische Unruhe, erhöhte Impulsivität, gestörte Aufmerksamkeit, nicht selten begleitet von „Lern- und Leistungsstörungen“, zum Beispiel Lese-Rechtschreib- oder Rechenstörungen. Diese Symptome müssen nicht zwingend in gleich starker Ausprägung vorliegen. Dazu können „ko-morbide Störungen“ kommen, also Begleiterkrankungen wie Angsterkrankungen, depressive Erkrankungen und Störungen des Sozialverhaltens. Nach den gängigen Diagnosekriterien müssen die zentralen Symptome bereits vor dem sechsten Lebensjahr deutlich erkennbar sein, danach muss man an andere kinder- und jugendpsychiatrisch relevante Erkrankungen denken. Zu der umfassenden Beurteilung gehört immer auch eine körperlich-neurologische Untersuchung, die Überprüfung der allgemeinen intellektuellen Leistungsfähigkeit, der schulischen Fertigkeiten und der psychosozialen Anpassung. Die Diagnose wird dann gestellt, wenn das Kind durch die Störung im Alltag scheitert, schulische Probleme auftreten und das Kind die gesellschaftlichen Ansprüche und Erwartungen nicht erfüllen kann. Diese Kinder sind nicht selten sozial isoliert, werden nicht zu Kindergeburtstagen eingeladen, häufig getadelt oder mit Schulverweisen bedroht.

ADHS wird in den Medien oft als „Modekrankheit“ dargestellt. Gab es ADHS auch früher?

Aus sehr frühen Beschreibungen wissen wir sehr genau, dass das motorisch unruhige, aufmerksamkeitsgestörte und impulsive Kind schon immer existiert hat – und zwar vermutlich in der gleichen Häufigkeit wie heute. Interessant ist auch, dass diese Krankheit weltweit betrachtet in allen Ländern in etwa gleich häufig auftritt.

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Heutzutage sind Kinder steigendem Druck in der Schule ausgesetzt, haben weniger Freizeit und oftmals ein ungünstiges Freizeitverhalten. In wie weit beeinflussen derartige gesellschaftliche Phänomene das Auftreten bzw. die Diagnose von ADHS?

Im Einzelfall ist es wichtig, gut zu klären, ob nicht schulische Überforderung, eine andere psychiatrische Erkrankung oder die tatsächlich erhöhten Ansprüche der Umwelt manche Fehldiagnose zustande kommen lassen. Überforderung ist eine der wichtigsten auszuschließenden Probleme, da chronische schulische Überforderung eine ganz ähnliche Symptomatik hervorrufen kann. Mildere Formen des „hyperkinetischen Syndroms“ können in Situationen, in denen die Kinder über ihre Fähigkeiten beansprucht werden, natürlich eher in Erscheinung treten. In einem schulischen Rahmen, der es ermöglicht, temperamentvolle Kinder mit leichten Schulleistungs- und Konzentrationsproblemen zu integrieren, würden sie womöglich gar nicht störend auffallen.

Die Störung ADHS ist, wie Sie gesagt haben, im Einzelfall nicht immer leicht festzustellen und kann ein Schock für die Eltern und ein Stigma für das Kind sein. Ist es sinnvoll, die Diagnose ADHS auch immer so zu benennen?

Meistens werden die Eltern für das Fehlverhalten der Kinder verantwortlich gemacht und die Schuld wird bei ihnen gesucht. Es kommen Vorwürfe wie „Das Kind ist schlecht erzogen“ oder „Kein Wunder, das ist eine alleinerziehende Mutter“ oder „Kein Wunder, die Eltern haben sich scheiden lassen“. Natürlich ist es einfach, gute Eltern zu sein, wenn man einfache Kinder hat. Wenn man schwierige Kinder hat, machen Eltern „erzieherische Fehler“, da sie mit ihrem normalen erzieherischen Wissen an ihre Grenzen kommen und es dann zu Überforderungssituationen kommt. Erzieherisch suboptimales Verhalten kann nicht die Ursache für ADHS sein.
Wenn Eltern mitgeteilt bekommen, dass die Verhaltensbesonderheit ihres Kindes nicht durch erzieherisches Fehlverhalten verursacht ist, sondern das dem eine psychiatrisch und biologisch erklärbare Erkrankung zu Grunde liegt, fällt diesen Eltern häufig ein Stein vom Herzen, denn der Schuldbegriff fällt weg. Außerdem kann man sich auf der Grundlage einer vernünftigen Diagnostik dann sehr spezifische Fördermaßnahmen überlegen. Wir sind der festen Überzeugung, dass es wichtig ist, die Situation des verhaltensbesonderen Kindes als Erkrankung zu definieren, damit klar ist, dass das Kind nichts dafür kann und es nicht heißt, das Kind ist böse, das Kind ist gemein, das Kind ist schlecht erzogen. Die Diagnose gibt einen Erklärungsansatz, der auch immer Lösungs- und Hilfsmöglichkeiten aufzeigt. Sie soll nicht dazu dienen, Verhalten zu entschuldigen, in dem Sinne: „Ich kann halt nichts dafür und deswegen muss ich auch nichts ändern.“. Das Gegenteil ist der Fall, diese Kinder brauchen besonders viel Hilfe und Unterstützung.

Viele Kinder mit ADHS werden mit der nicht unumstrittenen Substanz Ritalin behandelt. Welche weiteren, auch nicht-medikamentöse therapeutische Methoden gibt es?

Die Behandlung dieser Kinder muss immer multidimensional angelegt sein. Die medikamentöse Behandlung mit Stimulantien steht sehr in der Kritik der Öffentlichkeit, nicht zuletzt wegen den jüngsten Veröffentlichungen in der Presse, obwohl sie die am besten untersuchte Medikation im Kindes- und Jugendalter darstellt. Es ist richtig, dass diese Medikamente ADHS nicht heilen können, aber sie verbessern die Aufmerksamkeit und Konzentration des Kindes. Häufig wird durch das Medikament eine psychotherapeutische oder pädagogische Intervention überhaupt erst möglich. Die Medikation macht nicht abhängig, ist so gut wie nebenwirkungsfrei und kann dazu beitragen, den Schulausschluss oder das Zerbrechen von Familien zu verhindern.
Ergänzend zu der medikamentösen Behandlung muss geklärt werden, welche individuellen Sorgen beim Kind behandelt werden müssen, dazu gehört oft auch ein Training sozialer Kompetenzen und der Erwerb von Lernstrategien zur Verbesserung der schulischen Leistungen. Die Behandlung erfolgt nach verhaltenstherapeutischen Gesichtspunkten und ist eng am Problem orientiert. Die Kinder lernen zum Beispiel Konflikte zu lösen, die Bedürfnisse anderer besser wahrzunehmen, sich weniger schnell angegriffen zu fühlen und ihre Impulsivität unter Kontrolle zu halten. Diese verhaltenstherapeutischen Methoden sind wissenschaftlich hervorragend untersucht und in ihrer Wirksamkeit belegt, wobei auch aus psychotherapeutischer Sicht gesagt werden muss, dass eine Kombination zwischen medikamentöser Behandlung und Verhaltenstherapie meist den besten Effekt zeigt.

Wie sollten Alltag und Freizeit hyperaktiver Kinder idealerweise gestaltet werden?

Kinder mit hyperkinetischer Störung oder ADHS profitieren sehr von einer Strukturierung des Alltags, das heißt einzelne Beschäftigungen müssen klar angekündigt und zeitlich begrenzt sein. Sportliche Betätigung hilft den meisten Kindern, ihre überschüssige motorische Energie auszuleben. Generell gilt für Kinder mit ADHS, wie für alle Kinder, dass eine deutliche Begrenzung der Beschäftigung mit den „neuen Medien“ sinnvoll ist. Das unkontrollierte Spielen von zum Beispiel gewaltverherrlichenden Computerspielen macht natürlich an sich keine erhöhte Gewaltbereitschaft, kann aber bei Kindern mit stärkerer aggressiver Veranlagung problematisches Verhalten fördern. Begleitend zu diesen eher ausagierenden sportlichen Tätigkeiten können Trainingsspiele zur Verbesserung von Konzentration und Aufmerksamkeit hilfreich sein. In sämtlichen Buchhandlungen kann man solche angeblich konzentrationsfördernden Spiele in der „ADHS-Ecke“ erwerben, deren Wirksamkeit jedoch nicht hinreichend untersucht ist. Gleichwohl ist eine gemeinsame Beschäftigung mit dem Kind zur Verbesserung von Aufmerksamkeit und Konzentration auch für die Stärkung der Beziehung in der Familie sinnvoll und ratsam.

Ein Problem ist sicherlich auch, dass es der Umwelt, zum Beispiel den Lehrern, Eltern oder Mitschülern schwerfällt, mit ADHS umzugehen. Was sollte ihnen geraten werden?

Es ist wichtig, dass die Umwelt über die Verhaltensbesonderheit aufgeklärt wird, um Missverständnisse zu vermeiden beziehungsweise zu minimieren. In der Schule sollten die Kinder ganz vorne sitzen, damit Blickkontakt zur Lehrkraft möglich ist. Es sollten nur wenige und kurze Anweisungen gegeben werden und Wettbewerbsspiele vermieden werden. Auch für die Eltern ist es sehr wichtig, eine erzieherische Beratung zu erhalten, in der Verhaltensweisen zur Erleichterung alltäglicher Situationen erlernt werden. In Elterntrainings üben die Eltern diese Strategien unter fachkundiger Anleitung und Videokontrolle ein, die Situationen werden dann von der Gruppe bewertet und gegebenenfalls korrigiert und sollen dann in den Alltag übertragen werden. Die Effizienz des Elterntrainings ist sehr gut untersucht und trägt zur Erhöhung der erzieherischen Kompetenz bei.

In unserer Klasse gab es damals einen Mitschüler, von dem jeder wusste, dass er ADHS hatte. Es fielen dann manchmal unschöne, kränkende Bemerkungen wie zum Beispiel: „Hat der heute mal wieder seine Tabletten nicht genommen?“. Ist es sinnvoll, dass auch die Mitschüler darüber informiert werden, wenn ein Klassenkamerad ADHS hat?

Ich bin der festen Überzeugung, dass man mit dem Problem einer psychiatrischen Erkrankung, von Einzelfällen abgesehen, sehr offen umgehen muss. Das heißt, die Umwelt muss informiert sein, um Fehlinterpretationen des Verhaltens des Betroffenen auszuschließen. Eine der wichtigsten Therapiewirkfaktoren, die wir kennen, ist die sogenannte „Klärung“, sprich, die Frage „Was ist eigentlich das Problem?“ und „Gibt es einen Namen dafür?“. Und wenn es einen Namen dafür gibt, gibt es in aller Regel auch Behandlungsmöglichkeiten, die ebenfalls transparent gemacht werden sollten.

Zum Schluss noch eine Frage zum Verlauf von ADHS. ADHS wird meistens mit Kindern verbunden, gibt es das auch bei Erwachsenen oder legt sich das irgendwann von selbst?

Bis vor 20 oder 30 Jahren hatte man angenommen, dass sich das ADHS in der Pubertät „auswächst“, mittlerweile weiß man aus entwicklungspsychopathologischen Studien, dass sich die Erkrankung mit dem Alter verändert: die motorische Unruhe geht meist zurück, aber die Impulsivität und die Aufmerksamkeitsstörung können in nicht wenigen Fällen bestehen bleiben, sodass Studien zeigen, dass auch Erwachsene noch an den Restsymptomen von ADHS leiden. Mittlerweile gibt es auch für Erwachsene wirksame Behandlungsstrategien und Stimulantien.

Charlotte Auth

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